In seiner Entscheidung vom 25.05.2023 (Rs. C-141/22) hat der EuGH erstmals den Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ konkretisiert.

Sachverhalt

In dem zugrundeliegenden Fall stritten sich zwei Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln. Beide Unternehmen stellen Nahrungsergänzungsmittel her, die u. a. Buchweizenkeimlingsmehl mit einem hohen Spermidingehalt enthalten. Bei Spermidin handelt es sich um ein biogenes Polyamin, das in den Zellen aller Organismen in unterschiedlichen Konzentrationen vorkommt.

Zur Herstellung des Mehls wird Buchweizensaat in einer Lösung, die synthetisches Spermidin enthält, zu Sprossen gekeimt. Nach der Ernte werden die Keimlinge mit Wasser gewaschen, getrocknet und zu Mehl gemahlen. Es entstehen nicht mehr Keimlinge als zuvor Saatkörner eingesetzt wurden.

Eines der Unternehmen verklagte das andere auf Unterlassen des Vertriebs des in Rede stehenden Nahrungsergänzungsmittels und machte in diesem Rahmen geltend, es handele sich bei dem Produkt um ein neuartiges Lebensmittel, das gem. Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2015/2283 der Zulassung und der Aufnahme in die Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel bedürfe. Das beklagte Unternehmen hielt dem entgegen, dass es sich bei der Keimung um einen Schritt der Primärproduktion handele und die vorgenannte Verordnung nicht anwendbar sei, da eine Pflanze vor dem Ernten gem. Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 nicht als Lebensmittel anzusehen sei. Weiterhin verwies das beklagte Unternehmen darauf, dass Spermidin in der Union seit als mehr als 25 Jahren erhältlich sei.

Entscheidung

Der EuGH stellt zunächst fest, dass das spermidinhaltige Mehl vor dem 15.05.1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Union verzehrt wurde und das streitgegenständliche Mehl aus Pflanzen oder Pflanzenteilen besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wurde.

Ausgenommen hiervon seien jedoch Produkte, die zwei kumulative Bedingungen erfüllen müssten. Diese lauten wie folgt:

Erstens muss das betreffende Lebensmittel „eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ haben.

Zweitens muss es sich um ein Lebensmittel handeln, das „aus einer Pflanze oder einer Sorte derselben Pflanzenart besteht oder daraus isoliert oder erzeugt wurde, die ihrerseits gewonnen wurde mit Hilfe

  • herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, oder
  • nicht herkömmlicher Vermehrungsverfahren, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht zur Lebensmittelerzeugung eingesetzt wurden, sofern diese Verfahren nicht bedeutende Veränderungen der Zusammensetzung oder Struktur des Lebensmittels bewirken, die seinen Nährwert, seine Verstoffwechselung oder seinen Gehalt an unerwünschten Stoffen beeinflussen“.

Sodann stellt der EuGH zu der „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ fest, dass dieses Tatbestandsmerkmal in der Verordnung selbst nicht definiert ist. Lediglich der Begriff der „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland“ sei legaldefiniert. Der Begriff der Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland beschreibt den Sachverhalt, dass die Sicherheit des fraglichen Lebensmittels vor einer Meldung gemäß Art. 14 der VO (EU) 2015/2283 durch Daten über die Zusammensetzung und durch Erfahrungen mit der fortgesetzten Verwendung über mindestens 25 Jahre hinweg als Bestandteil der üblichen Ernährung einer signifikanten Anzahl an Personen in mindestens einem Drittland belegt worden ist.

Sodann konstatiert der EuGH ohne nähere Begründung und lediglich unter Verweis darauf, dass es keinen Grund für die Annahme gebe, dass der Begriff „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ im Gegensatz zu der in dem Drittland eine andere Bedeutung aufweise. Der Beleg der „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ setze somit ebenfalls einen belegten Zeitraum von mindestens 25 Jahren voraus.

Da damit bereits die erste Voraussetzung der Ausnahmeregelung nicht erfüllt sei, bedürfe es keiner weiteren Prüfung. Ergänzend wies der EuGH darauf hin, dass es sich bei der Anreicherung des Spermidins in den Keimlingen und damit im Ergebnis bei dem zur Herstellung verwendeten Mehl nicht um ein Vermehrungsverfahren der Keimlinge, sondern um ein Anreicherungsverfahren derselben handele, so dass auch diesbezüglich die zweite kumulative Voraussetzung nicht erfüllt sein könne.

Anmerkung

Die Gleichsetzung der Begriffe der „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union“ mit der „Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in einem Drittland“ darf höflich formuliert als höchst fragwürdig bezeichnet werden.

Insoweit ist die Frage aufzuwerfen, ob die unterbliebene Definition der Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der Union nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen ist, um in Hinsicht auf die Prüfung, ob der Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist, eine gewisse Flexibilität zu ermöglichen.

Für betroffene Unternehmen ist es ohnehin schon schwierig genug, hinreichende Verwendungsnachweise für ein bestimmtes Lebensmittel beizubringen, da solche Nachweise auch unter Berücksichtigung gesetzlicher Aufbewahrungsfristen für Unternehmen in der Regel nur 10 Jahren rückwirkend aufbewahrt werden und keine zentrale Datenbank oder ähnliches existiert, die derlei Belege umfasst und Betroffenen zugänglich macht. Die Gleichsetzung der vorgenannten Begrifflichkeiten durch den EuGH wird nunmehr nach hiesiger Einschätzung zur Folge haben, dass der Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung eine weitere massive Einschränkung erfährt.

Die Entscheidung belegt einmal mehr, dass der Rechtsbereich der neuartigen Lebensmittel hoch komplex ist, wozu die Entscheidungen des EuGH einen nicht unerheblichen Beitrag leisten.

 

Redaktion: Prof. Dr. Clemens Comans